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WIE SCHADE, DASS SIE KEINE FRAU SIND, KOLLEGE ANDERSON

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Ja, das finde ich auch sehr bedauernswert, dachte ich nach dem Gespräch mit dem jungen, agilen Filmproduzenten aus Hamburg. Viele meiner Kollegen werden ähnlich absurde Geschichten auf Lager haben, und auch ich habe darüber hinaus schon eine erkleckliche Anzahl haarsträubender Anekdoten in meinem Berufsleben in dieser Richtung sammeln dürfen. Jedoch war diese hier, ja, ich darf sagen, ein ganz besonderer Höhepunkt. Aber schön, der Reihe nach.

Vor einigen Jahren hatte ich eine Idee, eine Filmidee. Ich wollte einen Film machen, der der Frage nachgeht, was Glück ist. Vielleicht auf den ersten Blick nicht besonders originell, wie ich zugeben muss, da doch die meisten Filme und Geschichten um dieses Thema kreisen. Auslöser war aber eine Begebenheit aus meiner DDR-Kindheit, die ich teilweise im thüringischen Jena verbrachte. Die Begebenheit drehte sich vorderhand um nicht existente Unterhosen, weshalb die Geschichte auch „Der Unterhosenstreik“ heißen sollte, aber eigentlich ging es darum, was Glück bedeutet, wenn man keine Unterhosen zu kaufen bekommt. Dann ist die erfolgreiche Jagd nach diesem Kleidungsstück nämlich schon ein unfassbares Glück.

Tatsächlich ging mir das Exposé leicht von der Hand. Es sollte ein Film über Frauen werden, da ich auch innerhalb meiner Familie erleben durfte, dass Frauen in der DDR etwas ganz besonderes waren. DDR-Frauen brachten es meiner Erfahrung nach dazu, Beruf, Kinder, Familie, gesellschaftliches Engagement und privaten Glücksanspruch miteinander auf eine ganz wunderbare Weise zu verbinden. Nicht, dass das real-sozialistische Leben ganz besonders nett zu Frauen gewesen wäre, aber der Marxismus-Leninismus machte einiges mehr möglich, als es vielleicht heute für Frauen der Fall ist. Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen – ich wollte mit dem Film keine Tränen über das Ableben der DDR vergießen, ganz im Gegenteil. Ich fand aber, dass in Filmen über die DDR, die nach 1989 im wiedervereinten Deutschland entstanden, der stinknormale Alltag unterrepräsentiert war. Der Glücksanspruch der Helden dieser Filme drehte sich entweder um Flucht, um deutsch-deutsche Trennung oder glorifizierte Stasi-Täter. Was ich wollte, war das Leben dreier Frauen erzählen, die sich im DDR-Leben eingerichtet hatten, deren Welt nicht von der Sehnsucht nach der großen weiten Welt bestimmt war und deren Schicksal durch einen Mangel an Unterhosen für immer mit einander verknüpft sein würde. „DER UNTERHOSENSTREIK“ – das klang in meinem Inneren nach Komödie und nach Tragödie, weshalb ich gerne für meinen Stoff das Genre der Dramödie reklamierte. Und genau besehen, können Unterhosen tatsächlich Komödie, Drama oder eben beides zugleich sein, nicht wahr? Und, ja, ich wollte einen Heimatfilm machen. Unbedingt einen Heimatfilm.

Nachdem ich mehrere Fassungen des Exposés geschrieben und eine kluge Frau als Dramaturgin dafür begeistert hatte, gelang es mir einen freien Producer für meinen Filmstoff zu interessieren. Da die thüringische Stadt Jena quasi eine vierte Hauptrolle spielte, schlug mir der Producer eine kleine Filmproduktion in eben jenem Bundesland vor. Während ich das Treatment und die erste Fassung des Drehbuchs schrieb und mich mehrere Nächte mit den Förderunterlagen herumschlug, unternahm die Filmproduktion den Anlauf, einen großen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ins Boot zu holen. Alles klang sehr vielversprechend, denn auch die Stadt Jena war zu jeglicher Unterstützung bereit, man freute sich ‚ein zweites Loch in den Arsch‘, wie der Kulturreferent nicht müde wurde zu betonen, weil ‚hier wurde noch nie irgendwas von Belang‘ gedreht. Ich traf mich mit potentiellen Hauptdarstellerinnen, eine Szenenbildnerin, die das Buch gelesen hatte, brannte lichterloh, wildfremde Menschen aus der Branche, die von dem Projekt gehört hatten, bewarben sich um Mitarbeit. Ich schwebte und war der Meinung, dass jetzt absolut nichts mehr schief gehen konnte. Nach weiteren zwei Jahren und sieben Drehbuchfassungen später bekam die Hauptabteilungsleitung ‚Fernsehfilm/Kino-Koproduktion‘ des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders das Konvolut auf den Tisch. Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist, aber mir wurde berichtet, dass man geschäumt hätte, was immer das auch heißen mag. Kolportiert sind ein paar Sätze wie: „Sowas hat es nicht gegeben“ und „Das ist Verunglimpfung der Arbeiterklasse in der DDR“. Ob diese Texte wirklich gesprochen wurden, vermag ich nicht zu sagen, aber das ändert nichts am Ergebnis. In Abwandlung eines berühmtes Ausspruches von Jewgeni Jewtuschenko möchte man sagen: „Ein gestraucheltes Projekt muss man totschießen wie ein gestraucheltes Pferd.“ Ich schoss. Mit zitterndem Abzugsfinger und mit Tränen in den Augen.

Schnitt. Bei einem meiner zahlreichen Umzüge fiel mir immer mal wieder das Drehbuch, letzte Fassung, in die Hände und ein tiefes Seufzen entrang sich jedes Mal meiner Brust. Schließlich entschloss ich mich, noch einen Anlauf zu machen, ich fand den Stoff zu schön, um ihn im Keller der aufsteigenden Feuchte preiszugeben. Zu den 40 Exemplaren, die ich per Einschreiben verschickte, erhielt ich ganze drei Eingangsbestätigungen, die aber auch sofort betonten, dass man wenig bis gar keine Chancen sähe. Ungefähr die Hälfte kam ungelesen mit dem Vermerk ‚Annahme verweigert‘ zurück. Schon nach 14 Monaten meldete sich per Mail ein Produzent aus Hamburg.

„Hallo Kollege Daniel Anderson,

ich habe das Buch lesen lassen und es interessiert mich. Ihre Vita ist ja ganz ordentlich, auch wenn das alles nur Serien sind. Kommen Sie doch bei Gelegenheit mal nach Hamburg, dann reden wir darüber.

Mit besten Grüßen von der Waterkant,

XY.“

Heureka, das war doch mal was. N8n ja, Hamburg war nicht gerade Thüringen, wo das Buch am besten aufgehoben gewesen wäre, aber, was soll’s. Spatz – Hand, Taube – Dach. Ich mailte sofort zurück und bat um einen konkreten Termin. Vier Monate später erhielt ich einen Vorschlag für ein Treffen, der weitere sechs Monate in der Zukunft lag. Was ist schon Zeit, wenn man Glück hat?

Gestern war es nun soweit. Ich wurde in einem netten Büro mit Hafenblick und Kaffee, der wie verbranntes Schweinefleisch  schmeckte, empfangen. Ein gestresster XY. gab mir fahrig die Hand:

„Wir haben 30 Minuten, dann hab ich Termin beim Sender.“

Mir wurde ein Stuhl angewiesen und eine Zeitung vor die Nase gelegt. Es war ausgerechnet die Sonntagsausgabe des Berliner Tagesspiegel. Im Kulturteil war der Artikel „Eine Frage von Heimat – Das deutsche Kino kreist immer noch um sich selbst. Es braucht Input von außen …“ angemarkert. Leuchtendes Orange.

„Lesen Sie mal schnell, ich muss nur kurz was mit Angelika klären“, sagte XY. und entfleuchte. Angelika war offensichtlich seine Sekretärin oder Assistentin oder wer auch immer.

Ich tat, wie mir geheißen und las. In dem Artikel wurde versucht, den Nachweis zu führen, dass das ‚Fack ju Göthe‘ – Phänomen ein Armutszeugnis für den deutschen Film wäre, und wir tatsächlich wesentlich mehr ausländische Filmemacher bräuchten und diese auch dringend gefördert werden müssten. Es fielen in dem Artikel viele Namen von türkischen, tunesischen und irakischen Kollegen, deren von deutschen Filmförderanstalten geförderte Filme sich mit den Problemen und den Beziehungen der Autoren zu ihrer Heimat auseinandersetzten. Soleen Yussef, eine irakische Kollegin, wurde mit ihrem Film ‚Haus ohne Dach‘ ausführlich vorgestellt. In diesem Film geht es um eine kurdische Familie, die nach dem Tod des Vaters zwischen Deutschland und Irak zerrissen wird. Während die Mutter zurückkehren will, denken die Kinder gar nicht daran ihre Existenz in Deutschland so ohne weiteres aufzugeben. Interessant, wie ich fand, war aber intellektuell nicht in der Lage, eine Verbindung zu meinem Drehbuch herzustellen.

Als XY. nach 20 Minuten wieder erschien, („Wir haben noch 10 Minuten“) sah er mich herausfordernd an:

„Also, was sagen Sie?“

„Nun, was sagen SIE?“, antwortete ich lauernd.

„Um es kurz zu machen, Kollege Anderson, ja, Sie können schreiben, hab ich mir sagen lassen, Ihre Figuren in dem Buch sollen scharf und außerordentliche Tiefe haben, und sicher können Sie auch Regie führen, wenn man den Gerüchten in der Branche glauben schenken darf …“

„Das klingt nach einen ‚Aber'“, unterbrach ich die Stille.

„Richtig, da gibt’s ein ‚Aber‘. Ich will nicht den Teufel an die Wand malen. Verstehen Sie mich mal nicht falsch. Sie sind nicht mehr der Jüngste, Ihre besten Jahre liegen hinter Ihnen, da brauchen wir uns nichts vorzumachen, seien wir mal ehrlich. Sie sind kein Flüchtling, nicht mal Ausländer.“

Dem konnte ich nicht widersprechen, das alles bin ich nicht und es wird mir in diesem Leben aller Wahrscheinlichkeit auch nicht mehr vergönnt sein, Flüchtling oder Ausländer in Deutschland zu werden. Okay, kein Problem.

„Um auf den Artikel hier zurückzukommen, den Sie mir so schön präsentiert haben, mein ‚UNTERHOSENSTREIK‘ ist doch auch ein Heimatfilm und meine Helden sind Frauen und …“

XY. hob die Hand, um mich zu unterbrechen: „Ich sagte ja schon, dass man mir gesagt hat, dass Ihr Drehbuch wundervoll ist, aber, und das ist das Hauptproblem, Sie sind eben nicht nur alt, Sie sind auch noch ein Mann und noch dazu ein weißer Mann, also Durchschnitt, nichts, wovon wir nicht schon genug hätten“.

Noch zwei Minuten, bis XY los musste. Er stand schon mal vorsichtshalber auf und zog sich das Jackett an.

„Und um mir das zu sagen, haben Sie mich aus Berlin hier antanzen lassen? Mit Verlaub, Herr XY, das ist wirklich respektlos.“

XY. war nicht im Geringsten irritiert, nein, ein gütiges Lächeln umspielte seine Lippen, die übrigens von einem perfekt in Form gestutzten Hipsterbart umrahmt wurden.

„Ach, nehmen Sie das nicht persönlich, aber wie schade, dass Sie keine Frau, Kollege Anderson, dann könnten wir es trotz Ihres Alters versuchen. Aber wissen Sie was? Machen Sie einen Roman draus und wenn der gut läuft, dann haben wir jedes Argument in der Hand, um gefördert zu werden.“

Auf der Rückfahrt nach Berlin zuckte mir der Gedanke durch den Kopf, mein Gefährt gegen einen Brückenpfeiler zu lenken. Ich verwarf den Gedanken wieder und rief stattdessen meinen Freund T. an.

„Schreib’s auf, Kisch“, lachte T. „Warum machst du nicht wirklich einen Roman draus?“

Ja, warum eigentlich nicht.

ABREIBUNG FÜR HERMANIS IN ZEITEN DER ANGST

Ja, verdammt, wir leben in sonderbaren Zeiten.

Es sind Zeiten der Angst.

‚Besorgte‘ Bürger sind ‚besorgt‘, und haben nichts weiter als Angst, weil sich ihnen keiner erklären will. Linke haben Angst vor den Rechten und die Rechten haben Angst vor den Linken – beide tarnen ihre Angst mit Gewalt gegen alles und jeden, der ihre Ansichten nicht teilt. Die Mitte, falls es sowas überhaupt noch gibt, hat Angst vor allen Seiten. Muslime haben Angst davor, grundlos stigamtisiert zu werden. Juden empfinden Angst vor Muslimen und deren latentem Judenhass, der auch in der bürgerlich deutschen Gesellschaft als allgemeiner Konsens von ganz weit rechts bis ganz weit nach links lauert. Christen haben Angst, Athetisten haben Angst, und alle zusammen haben Angst vor DAESH.

Als Künstler oder Intellektueller und auch die, die sich dafür halten, hat man heute eine Art Treueschwur auf irgendwie links zu leisten, weil man dahin zu gehören hat. Auch das ist Konsenz, und man ist sich der Tatsache bewusst, dass man bei Strafe von Liebesentzug, der für einen quasi das existenzielle Aus bedeutet, bestraft wird. Und selbst, wenn man vielleicht leise, feine Zweifel haben sollte, an dem, was da gerade als Willkommenskultur wie eine Weltmeisterschaft um Kriegsflüchtlingsherzen zelebriert wird, wird man aus Angst, Keile von den Vereinigten Streitkräften des Feuilletons zu kriegen und von der obersten Heeresleitung der Medien in ‚Pack‘-Nähe gerückt zu werden, der politisch korrekten Einheitsmeinung folgen. Sollte es doch jemand wagen, aus der Reihe zu tanzen, kriegt er eine ordentliche Abreibung.

Mein Kollege Alvis Hermanis musste schmerzliche Bekanntschaft mit diesem Verfahren machen, nachdem er seine Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater mit der Begründung abgesagt hat, dass er die Politik des Hauses nicht mittragen kann . Anlass war das Flüchtlingsprojekt des Theaters, und Hermanis wollte sich nicht diesem Geist eines ‚refugee welcom centers‘ unterordnen. Er schrieb einen Brief an die Intendanz. Kein Brief, der für eine wie auch immer geartete Öffentlichkeit bestimmt war. Hermanis wählte den Weg, der vernünftig und angemessen schien. Er machte keine Staatsaffäre daraus, er schob keine medienwirksame Welle vor sich her, er war besonnen. Ich teile seine Meinung ganz und gar nicht, dass man sich vor Flüchtlingen ’schützen‘ müsste, weil damit quasi ‚französischen Zuständen‘ Tür und Tor geöffnet würden. Ich teile aber seine Meinung, dass ein Theater kein ‚Flüchtlingsprojekt‘ braucht, um Solidarität zu zeigen. Meiner Meinung nach weckt das falsche Hoffnungen, es ist eine Tür, die sich zwangsläufig wieder schließen muss.

Ich gestehe Hermanis das Recht zu, seine Meinung zu haben, auch dann, wenn sie, wie in diesem Fall, nicht meine eigene ist. Ich würde dem Kollegen mein Bedauern ausdrücken, dass mein Theater mit ihm einen Künstler von Rang verloren hat. Ich hätte mich als Intendant, der so einen Brief bekommt und dem etwas an dem Kollegen liegt, vielleicht auf den Weg zu ihm gemacht, wäre mit ihm einen trinken gegangen und hätte versucht die Politik meines Hauses zu erklären. Ich hätte das Telefon in die Hand nehmen können, wenn mir Paris zu weit gewesen wäre. Aber ich hätte, in der Hoffnung einen Konsens zu finden, das Gespräch gesucht und auch gefunden – egal, was dabei herausgekommen wäre. Vielleicht hat Joachim Lux es ja auch getan. Der Intendant des Thalia-Theaters hat jedoch augenscheinlich einen anderen Weg gewählt. Was auch immer ihn bewogen haben mag, einen an ihn gerichteten Brief von Hermanis in die Öffentlichkeit zu entlassen, es hätte ihm als sehr klugen Menschen, der er ist, klar sein müssen, dass er damit in diesen Zeiten der Angst zumindest dem Ruf des Kollegen schadet, ja, ihn vielleicht sogar zerstört. Hätte Hermanis wirklich seine Meinung öffentlich machen wollen, hätte er sicherlich einen anderen Weg beschreiten können, als einen Brief an Lux zu schreiben. Die Viralität, die die Pressemitteilung über die Gründe der Absage erreichte, war gar nicht so erstaunlich, wie es vielleicht den Anschein hat. Denn, wie gesagt, wir leben in Zeiten der Angst. Es brachen Shitstürme los, plötzlich hatte  man einen am Kragen, G’tt sei Dank. Und man selbst konnte sich und seine eventuellen Zweifel – angesichts des Zynismus, der den von Krieg traumatisierten Menschen staatlich verordnet entgegenschlägt, indem man sie erst einlädt und dann, wie in Berlin, tagelang in Regen und Kälte warten lässt – hinter einer ordentlichen Portion Entrüstung verbergen.

Ein bisschen fühlt man sich als gelernter DDR-Bürger bei alldem daran erinnert, wie das dort gehandhabt wurde. Eine weltanschauliche Deutungshoheit wird bis zum Rufmord durchgesetzt. Man wird öffentlich vorgeführt. Man bekommt die Instrumente gezeigt, in der Hoffnung, dass sich nur kein anderer wagen sollte, der politisch unkorrekten Meinung zu folgen, denn dann würde man schon sehen, was man davon hat. In der DDR übernahmen diesen Job die Staatsbürgerkundelehrer in der Schule, die Parteisekretäre in den Betrieben – begleitet von IM’s – und irgendwann gesamtgesellschaftlich auch die hauptamtlichen STASIisten. Robert Havemann, Freya Klier, Bärbel Bohley, Wolf Biermann und noch eine ganze Reihe anderer haben das – manchmal bis an den Rand der physischen Vernichtung – erleben dürfen. Vertrauen in jemanden zu haben und ihm seine Meinung zu sagen, war ein Luxus, den man sich eigentlich nicht leisten konnte.

Klar, Hermanis hätte sich auch einfach nur krank melden können, seine Inszenierung wäre eben aus diesen Gründen abgesagt worden und kein Hahn hätte danach gekräht. Nun befinden wir uns stattdessen in einer Massenhahnhaltung und das Krähen fängt ganz gewaltig an zu nerven. Hermanis wollte seinen Arbeitgeber nicht belügen, daher hat er diesen Brief an geschrieben. Hätte der Intendant das Vertrauen, dass Hermanis ihm damit bewiesen hat, so desavouieren müssen, indem er die Gründe für die Absage öffentlich macht? Nein, hätte er sicherlich nicht. Warum hat er es dennoch getan? Vielleicht aus Angst?

Ja, verdammt, wir leben in sonderbaren Zeiten.

Es sind Zeiten der Angst.

DAS LEBEN ALS MENSCH. Neulich ….. Er steht nicht richtig.

Die Morgen an Sonntagen sind eine großartige Erfindung. Man sollte einer Reihe von Menschen posthum den Friedensnobelpreis dafür verleihen, angefangen von den Erbauern des Turmes von Jericho, über Papst Gregor, dessen Kalender wir noch heute benutzen, bis hin zu Kepler und Genossen. Sonntagmorgen sind im Allgemeinen sehr friedlich, das Grundrauschen der Großstadt ist um ein paar Dezibel heruntergefahren, ein einzelnes Hundebellen irgendwo und das sanfte Schlurfen von Leuten, die in Badelatschen und Jogginghosen zum Bäcker gehen.

An so einem Sonntagmorgen saß ich sehr früh, also nach 10 Uhr, in meinem Stückchen Garten, den ich durch das bodentiefe Fenster meiner Schlafzimmertür betreten kann, trank Kaffee und hörte mit geschlossenen Augen dem Gras – oder vielmehr dem Unkraut – beim Wachsen zu.

Die Beschaulichkeit wurde jäh unterbrochen, als eine verzweifelte Frauenstimme die Großstadtidylle unterbrach:

„Er steht nicht richtig! Er steht nicht richtig, Herrgott noch mal!“

Ich fragte mich nur für einen Augenblick, was damit wohl gemeint sein könnte, gab es dann aber auf. Warum sollte mich so ein Ruf auch nur dazu bewegen, meine Augen zu öffnen. Das änderte sich, als der Bass eines Mannes antwortete:

„Ja, doch, er steht nicht richtig, dann musste eben mal selber machen, wenn er nicht richtig steht.“

Es schien, als kämen die Worte von der Straßenseite und würden durch meine geöffneten Fenster in meinen Garten getragen.

Jetzt ärgerte ich mich für einen Moment, dass mir solche Dialoge nicht einfielen und mir stattdessen die Realität zu Hilfe kommen musste. Wieso war ich nicht schon längst auf die Idee gekommen, eine absurde Kurzgeschichte mit dem Titel ‚Er steht nicht richtig‘ zu schreiben? Während ich noch darüber nachdachte, warum meine Fantasie so beschränkt mittelmäßig ist, entbrannte in der Etage über mir ein heftiger Streit zwischen dem Ehepaar, das diese Wohnung bewohnt.

„Wenn ich es dir doch sage, er steht nicht richtig“, schnauzte meine Nachbarin ihren Gatten an, „er knickt immer wieder ein.“

Die Antwort des Mannes war leider nur teilweise verständlich, es klang wie:

„… wenn du aber auch immer … nie kannst du … vorsichtiger … du musst ….“

Das konnte doch kein Zufall mehr sein, oder? Okay, der Frieden war dahin und ich ging in meine Küche, um mir noch einen Kaffee zu holen. Ich zwang mich, aus Gründen nicht neugierig erscheinen zu wollen, dazu, nicht aus dem Fenster zu sehen, um vielleicht dem ersten Dialog auf den Grund zu gehen. Vielmehr schnappte ich mir kurz entschlossen einen 5-Euro-Schein aus dem Portmonnaie, um mich auf den Weg zum Bäcker zu machen. Dabei könnte ich, ganz unverfänglich, vielleicht erfahren, wer oder was da nicht richtig steht.

Als ich aber die Haustür öffnete, befand ich mich allein auf der Straße. Unterwegs zur Bäckerei ‚Alpenstück‘ passierte ich einen Hochpaterrebalkon, auf eine Frau stöhnte, als sei der Leibhaftige hinter ihm her:

„Ach, ach, nein, ja, jetzt, nein … er steht nicht richtig.“

Ich blickte mich um und suchte mit wachsender Panik die versteckten Kameras, mit denen man mich offensichtlich in den Wahnsinn treiben wollte. Ich entdeckte an einem Hauseingang eine Überwachungskamera und näherte mich ihr so normal und unaufgeregt wie möglich. Einer plötzlichen Eingebung folgend, sprang ich auf die Kamera zu und schnitt eine Grimasse, die selbst Hitler, Stalin oder den ISIS-Kommandeur Al-Bagdadi erschreckt und alle drei zu Pazifisten gemacht hätte. Es bedarf keiner besonderen Erwähnung, dass gerade in diesem Augenblick die Haustür von innen geöffnet wurde und eine sehr attraktive Frau in knappen Shorts und halbdurchsichtigem Top herauskam. Die beste Tochter von allen hätte nur ihren Blick gen Himmel gerollt: „Papa, du bist echt peinlich.“ Ja, verdammt, weiß ich, weiß ich. Aber, was, bitte schön, soll ich denn machen?

Als ich meine Brötchen bezahlte, das Stück zu 1,42€ wegen Bio und Berlin-Mitte, rief eine Frau aus der Backstube, dass es durch den ganzen Laden hallte:

„Steht, endlich!“

Ich hatte Mühe, nicht in hysterisches Gekicher auszubrechen, als ihr eine Männerstimme verhalten antwortete:

„Ja, aber nicht richtig.“

Dem Satz folge ein ohrenbetäubender Lärm, als bliese jemand die Trompeten von Jericho.

Fluchtartig verlies ich die Lokalität und rannte, so schnell es die Badeschlappen an meinen Füßen erlaubten, mir die Ohren zuhaltend, in Richtung meiner Behausung. Als ich die Wohnungstür aufschloss und deswegen die Hände von den Ohren nehmen musste, schimpfte jemand unterdrückt aus dem Kellergeschoss:

„Jetzt ist er abgebrochen. Ich hab dir gleich gesagt, er steht nicht richtig.“

Hatte ich nicht noch eben die friedlichen Sonntagmorgen in der Großstadt gepriesen? In meiner Wohnung schloss ich alle Fenster, ließ die Rollläden herunter und drehte das traurigste aller Lieder (BLACKBIRD – in der Version von Evan Wood) voll auf.

Wenig später drang durch die Musik die Wohnungsklingel an mein Ohr. Ich drehte Evan Wood den Hals um. Ich schleppte mich zur Tür und sah durch den Türspion meine Nachbarin von oben. Ich öffnete und sah in ihrem Blick, dass ich furchtbar aussehen musste. Aber sie riss sich zusammen:

„Guten Morgen. Können Sie mir vielleicht helfen, mein Mann ist ein bisschen minderbemittelt in diesen Dingen.“

Damit wies sie auf einen nagelneuen Wäscheständer, den sie vor meine Tür gestellt hatte:

„Er steht nicht richtig und knickt immer wieder ein. Und Sie können doch wahrscheinlich so was.“

Nun doch in das hysterische Gekicher ausbrechend, drehte ich eine Plastikfeststellmuffe die sich schlapp und nutzlos an das Aluminiumrohr schmiegte über das Gelenk:

„Jetzt steht er richtig“, prustete ich der verdutzten Frau ins Gesicht. Sie hatte soviel Mitgefühl, sich ein bedauerndes Lächeln abzuringen, als wollte sie sagen: ‚Sie sollten sich dringend in nervenärztliche Behandlung begeben.‘ Gerade als sie mit ihrem, nun richtig stehenden WäscheSTÄNDER, haha, nach oben entschwand, kam aus dem Keller das schwule Pärchen mit seinen Fahrrädern die Treppen hoch. Sie würdigten mich keines Blickes, denn sie waren nun in eine bittere Auseinandersetzung vertieft, die sich um den abgebrochenen FahrradSTÄNDER, haha, drehte. Die Welt liegt im Fieber, jawohl, im Fieber.

Zurück in meiner Wohnung nahm ich eine kalte Dusche und öffnete wieder alle Fenster. Als ich die zur Straße aufstieß, sah ich zwei Männer und eine Frau aufgeregt um einem Kleinbus herumspringen, wobei die Frau unentwegt insistierte:

„Nun sag du doch mal, der steht doch nicht richtig. Wie soll ich denn da wieder rauskommen.“

Es gibt doch noch eine Gerechtigkeit, es gibt doch noch einen gnädigen, verzeihenden HERRN. Und mir ist er erschienen, dem Himmel sei Dank.

Später am Tag wollte ich mich mit einem Freund auf einen Kaffee treffen. Als ich an der Bäckerei ‚Alpenstück‘ vorbei kam, waren mehrere, schwitzende Männer eines Notdienstes gerade dabei, einen kleinen, betagten und demolierten Backautomaten in einen Transporter zu verladen. Ein Mann im Kittel und mit Klemmbrett unterm Arm beaufsichtige die Arbeit. Einer der Angestellten der Bäckerei stellte sich neben ihn. Der Kittel fragte leichthin:

„Wie konnte das denn passieren?“

„Stand nicht richtig, das Ding. Sandy wollte noch Bierdeckel drunterschieben, aber da ist es passiert.“

Mein gemurmeltes Dankgebet wurde vom Text eines Verladers überlagert:

„Steht, nur noch das Gummiding drüber und festzurren.“

Mein Freund, dem ich die Sonntagmorgengeschichten ‚Er steht nicht richtig‘ atemlos erzählte, er studiert seit Neuestem wieder Philosophie an einer Fernuni und will sogar noch promovieren, hatte mir regungslos zugehört. Dann schaute er mir tief in die Augen und legte mir, was er sonst niemals tat, beschwichtigend die Hand auf die Schulter:

„Mein Freund, du musst dringend mal Urlaub machen.“

Als ich später am Abend nach Hause lief, kam ich an dem stöhnenden Balkon vorbei. Eine jetzt ganz und gar nicht mehr hysterische, sondern einschmeichelnde Stimme schwappte zu mir auf die Straße:

„Wir hätten die Yukapalme niemals auf diesen baufälligen Hocker stellen dürfen.“

„Stimmt, mein Mauseschwänzchen, konnte ja nicht richtig stehen.“

Nun, war ich endgültig versöhnt mit mir, der Welt, dem ganzen Universum und mit allem, was nicht richtig steht.

Ich beschloss, mich noch auf eine Zigarette in den kleinen Park am Nordbahnhof zu setzen. Nach drei Zügen hörte ich ein Rascheln zwischen den frisch angepflanzten Büschen hinter der Bank. Ein kleines, sehr leises Wispern umfing mich wie eine wundervolle Umarmung:

„Süßer, er steht nicht ri ….“

Wie ich nach Hause kam, weiß ich nicht mehr. Aber ich weiß, dass Sonntage eine wunderbare Erfindung sind.

 

DAS LEBEN ALS MENSCH: Neulich … in der Warteschleife

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie den Briefkasten öffnen und eine unübersehbare Masse an Werbung darin finden, obwohl Ihr Briefkasten deutlich die Aufschrift KEINE WERBUNG trägt. Mich macht das rasend. Aber es gibt auch Werbebotschaften, die sich tarnen, in neutralen Umschlägen mit dem Logo des Strom-, Gas- oder TV-Anbieters, mit dem man einen Vertrag hat. Das betrachtet man dann doch schon mal genauer.

Ich finde im Briefkasten einen Werbeflyer meines Telefon- und Internetanbieters:

„Wechseln Sie jetzt zum günstigeren Tarif! Ihr Vorteil: schnellere Verbindungen und 36-monatige Tarifbindung. Handeln Sie schnell, denn dieses Angebot ist bis zum 15.03. begrenzt!“

Ich greife zum Telefon und rufe die Hotline an. Eine automatische Ansage meldet sich:

WILLKOMMEN BEI ….. ZUR ZEIT SIND ALLE UNSERE SERVICEMITARBEITER IM GESPRÄCH, BITTE HABEN SIE EINEN MOMENT GEDULD, DER NÄCHSTE FREIE MITARBEITER IST BEREITS FÜR SIE RESERVIERT. ZUR SICHERUNG UNSERER SERVICEQUALITÄT WERDEN EINZELNE GESPRÄCHE AUFGEZEICHNET. WENN SIE DAS NICHT MÖCHTEN, GEBEN SIE UNS BITTE ZU BEGINN DES GESPRÄCHS EINEN KURZEN HINWEIS.

Nach 12 Minuten, in denen sich diese Ansage mehrmals wiederholt:

Hotline: „Guten Tag! Hier ist ……, mein Name ist Baumann, was kann ich für Sie tun?“

Ich: „Ihnen auch einen guten Tag. Meine Name ist Anderson. Mein Vorname ist Daniel. Und Ihrer?

Hotline: „Mein Vorname?“

Ich: „Ja. Meinen kenne ich ja schon lange.“

Hotline (leises Kichern): „Evelyn.“

Ich: „Sehr schön, danke. Also, ich habe einen Flyer bekommen und wollte mich über einen Tarifwechsel erkundigen.“

Hotline: „Sehr schön, Herr Anderson, das ist gar kein Problem, darf ich Sie um ihre Kundennummer und ihr Kundenkennwort bitten?“

Ich: „Sehr gerne, meine Kundennummer lautet 123456789, mein Kennwort ist ‚Notrufsäule‘.“

Ich erinnere mich, dass, zu dem Zeitpunkt, als ich ein Kennwort festlegen sollte, mir dieser blöde Witz im Kopf rumschwirrte: „Was ist ein schwäbisches SOS-Schwein? Na, a Notrufsäule.“

Hotline: „Sehr schön, Herr Anderson, vielen Dank, ja das habe ich hier auch, Notrufsäule. Wenn wir noch kurz die Adressdaten abgleichen könnten? Wenn sie die nicht zur Hand haben, dann ist das gar kein Problem.“

Ich: „Bitte, ich habe meine Adressdaten zur Hand, weil ich weiß, wo ich wohne.“

Hotline: „Natürlich, selbstverständlich, Herr Anderson, das ist gar kein Problem.“

Ich: „Die Adresse ist Tieckstraße, Nummer 24, in 10115 Berlin.“

Hotline: „So, Herr Anderson, das ist korrekt.“

Ich: „Ja, da hab ich ja noch mal Glück gehabt.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, worum geht es denn?“

Ich: „Wie gesagt, ich habe einen Flyer von Ihnen im Briefkasten gefunden. Da geht es um einen Tarifwechsel.“

Hotline: „Oh, da sind Sie bei mir aber völlig falsch.“

Ich: „Aha.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, ich stell Sie einfach zu den Kollegen durch. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Ich: „Ich könnte einen Kaffee gebrauchen.“

Hotline: „Damit kann ich leider nicht dienen, Herr Anderson, aber das ist gar kein Problem, ich stell Sie jetzt durch und wünsche ihnen noch einen schönen Tag.“

Ich: „Danke, ich Ihnen auch Frau Baumann.“

Hotline: „Vielen Dank, auf Wiederhören.“

Es folgt eine schreckliche Musik, die sich anhört wie ein Nokiaklingelton aus den 90zigern. Nach weiteren12 Minuten, schalte ich auf Freisprechen, setze mich an den Schreibtisch, checke meine Mails, beantworte die, die wichtig sind und beginne, ein Theaterstück zu entwerfen. Die Handlung spielt auf einem fernen Planeten, auf dem heterosexuelle Liebesbeziehungen verboten sind und unter schwerer Strafe stehen. Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, sind bereits 52 Minuten vergangen. Die Heldin in meinem Stück, Evelynium, hat gerade der Antagonistin, Avalynium, einer ganz fiesen Schnepfe, einen Heiratsantrag gemacht. Ich denke noch, wie sie sich unterstehen kann so etwas zu tun. Hab ich ihr nicht gerade durch ihren langjährigen Freund, Hieronimusius – ein Mann mittleren Alters, sehr gut aussehend, hochintelligent und bescheiden, hilfsbereit, musisch gebildet und überhaupt rundrum ein Traum – meine Liebe erklären lassen? Und dann geht sie einfach hin und baut so einen Scheiß? Ich bin außer mir vor Wut.  Knacken im Telefon…

Hotline: „Guten Tag, sie sprechen Evelyn Baumann, was kann ich für Sie tun?“

Ich: „Frau Baumann! Hier ist Anderson noch mal, Sie wollten mich doch verbinden.“

Hotline: „Wenn Sie mir kurz ihre Kundennummer und ihr Kundenkennwort nennen könnten?“

Ich: „Aber die hab ich ihnen doch schon vor  mehreren Lichtjahren gegeben.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, worum geht es denn?“

Ich: „Auch das habe ich Ihnen doch bereits erzählt, es geht um einen Tarifwechsel. Und jetzt sagen Sie mir nicht, dass ich bei Ihnen falsch bin.“

Hotline: „Gar kein Problem, Herr Anderson, das haben wir gleich. Ich schau mal eben. Ich sehe hier eine Nummer im Display. Ist das die Nummer, von der Sie gerade anrufen“

Ich: „Hören Sie, Frau Baumann, Evelynium, ich gebe Ihnen jetzt noch mal alle Daten, können wir dann zum Grund meines Anrufs bei Ihnen kommen?“

Hotline. „Gar kein Problem, Herr Anderson, so machen wir das jetzt.“

(Ich gebe nochmals alle meine Daten durch.)

Hotline: „Sehr schön, Herr Anderson, vielen Dank für Ihre Geduld.“

Ich: „Bitte sehr, keine Ursache.“

Hotline: „Wie kann ich Ihnen also weiter helfen?“

Ich (mühsam beherrscht): „Es geht um einen Tarifwechsel.“

Hotline: „Sehr schön, das ist gar kein Problem, Herr Anderson, welchen Tarif nutzen Sie denn zur Zeit“

Ich: „Das weiß ich nicht, die Daten müssten Sie doch in ihrem System haben.“

Hotline: „Natürlich, einen Moment bitte, das ist gar kein Problem, das haben wir gleich, einen kleinen Augenblick bitte, Herr Anderson“

(Wieder die schreckliche Melodie. Ich beginne an meinem Theaterstück weiter zu schreiben. Das Paar durchlebt eben eine schwere Krise, weil Evelynium nun doch ihre Leidenschaft für mich entdeckt hat, ich jetzt aber nicht mehr will und daher Avalynium mal stecken lassen muss, was ihre verehrte Angetraute da so treibt. Mir kommt die Idee zu einem Essay unter dem Titel: „Wer hat Angst vor Frau Baumann“. Ich lasse mein Theaterstück liegen und beginne an dem Essay zu arbeiten. Nach weiteren 14 Minuten …. )

Hotline: „SO, Herr Anderson, das hat jetzt etwas länger gedauert, aber jetzt kann es losgehen. Sie wohnen in der Tieckstraße 24 in 10115 Berlin, ist das richtig.“

Ich (im kafkaesken Rausch): „Ja.“

Hotline: „Sehr schön, Herr Anderson, ich sehe ja gerade, dass Sie doch relativ häufig im Internet sind, da macht ein Tarifwechsel Sinn, Herr Anderson, haben Sie darüber schon mal nachgedacht?“

Ich (nehme ein Aspirin): „Deswegen rufe ich doch an.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, das haben wir gleich. Wollen Sie den neuen XXLplus Tarif oder lieber den ALLcomfort Tarif?“

Ich: „Keine Ahnung, auf dem Flyer, den ich von Ihnen bekommen habe, steht weder der eine noch der andere.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, was steht denn da?“

Ich: „Hier steht, dass der Tarif, den Sie mir anbieten wollen, FLAT50000plus heißt.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, da schaue ich gleich mal, ob der für Sie überhaupt verfügbar ist, einen Moment bitte.“

(Ja, ich wurde wieder mit der Nokiamelodie malträtiert. Nach einer weiteren Aspirin macht mein Essay gute Fortschritte. Ich stelle die Kaffeemaschine an und beginne danach die Wäsche aus der Waschmaschine zu holen und hänge sie auf. Nach weiteren 27 Minuten….)

Hotline: „So, Herr Anderson, jetzt habe ich alle Informationen mal für Sie zusammen getragen.“

Ich: „Schön.“

Hotline: „Ja, wir haben zur Zeit einen großen Andrang hier.“

Ich (mit schnell kürzer werdendem Geduldsfaden): „Wissen Sie eigentlich, Frau Baumann, wie lange wir jetzt schon telefonieren?“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, das haben wir gleich.“

Ich: „Das würde mich sehr freuen.“

Hotline: „Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass der annocierte Tarif in ihrem Einzugsbereich nicht verfügbar ist.“

Ich (als Kragenbär, dem derselbe droht zu platzen): „Wie bitte?“

Hotline: „Es tut mir leid, Herr Anderson, aber das ist gar kein Problem, ich könnte ihnen dafür aber den Highspeed32000 Tarif anbieten, da fahren Sie sogar noch besser. Allerdings müsste ich Sie da zu den Kollegen durchstellen.“

Ich: „Nein, danke, ich glaube, ich verzichte.“

Hotline: „Das tut mir sehr leid, Herr Anderson, falls Sie es sich doch noch mal überlegen möchten, können Sie jederzeit anrufen, das ist überhaupt kein Problem.“

Ich: „Nein, danke, das wird wohl mein letztes Gespräch mit Ihnen gewesen sein.“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, Herr Anderson, kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Ich: „Ja, könnten Sie mir den Mitschnitt unseres Gespräches schicken“

Hotline: „Das ist gar kein Problem, aber aus Gründen des Datenschutzes wird das wohl nicht möglich sein.“

Ich: „Ich verstehe.“

Hotline: „Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Anderson.“

Ich: „Danke, gleichfalls.

Hotline: „Ich könnte Ihnen allerdings noch einmal eine detailierte Tarifübersicht per Post schicken, das ist gar kein Prob….

(Ich konnte Frau Baumann nicht mehr aussprechen lassen und trennte die Verbindung. Falls in den nächsten 10 Jahren noch einmal jemand die Redewendung „Das ist gar kein Problem“ benutzt, werde ich wohl vor Gericht landen, weil ich denjenigen oder diejenige erst heiraten, dann sein oder ihr Leben zur Hölle und sie oder ihn schließlich das Auto anzünden werde.)

VIELLEICHT

(inspiriert von: stairway | Öl auf Gips auf Leinwand von Angela Reinhardt)

 

mit meiner furcht erkenne ich

die großen Treppen der welt

die stimme des radios fällt

und begräbt mich unter sich

 

in meinem so engen Zimmer

bin ich verloren am Tag

und nachts als ich neben dir lag

gestern morgen und immer

 

ich versuch‘ dich zu verstehn

durch das so große ‚vielleicht‘

der Welt können wir uns sehn:

leben: zu schwer, sterben: zu leicht

 

soweit mich die nachricht erreicht

schimmert eine Sehnsucht rot

verboten ist der kleine tod

nur hin zum großen ‚vielleicht‘

 

Bild

http://a-reinhardt.de

DAS LEBEN ALS MENSCH: Neulich …. die nervigsten Menschen der Welt (2)

Kennen Sie dieses wunderbare Couplet von Pigor und Eichhorn „Kleine dicke Fraun“? Weil keine Beschreibung dieser Kategorie der ‚Nervigsten Menschen der Welt‘ in diesem wunderbaren, politisch so ganz und gar nicht korrekten Text dem Original das Wasser reichen kann, sollte man sich unbedingt hier mal das Vergnügen geben:

http://www.pigor.de/getCmsData.php?id=151&category=hoeren

Mein eigener Bedarf an Erfahrungen mit ‚Kleinen dicken Fraun‘ ist für den Rest meines Lebens jedenfalls gedeckt – die Narbe einer Platzwunde unter meiner linken Augenbraue kündet bis zu meinem Ableben von der handfesten Begegnung mit einem derartigen Exemplar. In einem hoffnungslos überfüllten ICE versuchte ich mich zum euphemistisch genannten Bordbistro durchzuschlagen. Mir entgegen kam eine dieser ‚kleinen dicken Fraun‘ und wir begegneten uns an einer Automatiktür, die zwei Wagen voneinander trennt. Ich wollte, das gebietet mir meine anerzogene Höflichkeit und der Respekt vor dem Alter und der Gebrechlichkeit, Platz machen. Aber mir folgten noch mehrere andere Reisende und mein Vorhaben war daher mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Das Exemplar der ‚kleinen dicken Fraun‘ schlug, plötzlich ganz und gar nicht mehr gebrechlich, unvermittelt und hemmungslos mit dem als Entenschnabel geformten Knauf ihres Gehstocks auf mich ein. Ich blutete wie Sylvester Stallone in „Rocky 7“ und fiel auf einen Mitreisenden, der sich so erschrak, dass er sein Handy auf den Boden fallen lies, wo es sein Dasein aushauchte. Der entstehende Tumult rief das Zugpersonal auf den Plan. Ich wurde notdürftig verarztet und die ‚kleine dicke Frau‘ unter ihrem lautstarken Protest, der von wüsten Beschimpfungen auf mich flankiert wurde, im Dienstabteil festgesetzt. Die Bahnpolizei nötigte uns, am nächsten Halt auszusteigen, mich, weil ich ins Krankenhaus gefahren wurde, sie, um ihre Personalien aufzunehmen. Das hatte der Entenschnabel dem Zugbegleiter verweigert, ihn stattdessen als „Faschist“, „dreckiges Arschloch“ und „Hundesohn“ bezeichnet. Mein Cut wurde sauber getackert und schon nach sechs Stunden konnte ich meine Reise fortsetzen. Der Rechtsanwalt, der für mich Schadensersatz und Schmerzensgeld einklagte, teilte mir nach neun Monaten mit, dass ich mit circa 900 Mark rechnen könnte, von denen er jedoch 753,87 Mark als Honorar zu bekommen hätte. Alles in allem ein wirkliches Vergnügen.

Wer kennt sie nicht – die selbsternannten Ordnungshüter, deren Lebensinhalt darin besteht, kleinste Übertretungen der öffentlichen Ordnung, oder was sie dafür halten, möglichst lautstark zu kommentieren oder ihre Ansicht von der Welt mit Hilfe von Ordnungsamt und Polizei durchzusetzen. Dabei ziehen sie sich in Windeseile eine Polizeiuniform über die Seele und werden zu Rettern der Zivilisation. Sie verfolgen Hundehalter und kontrollieren, ob auch die Haufen ordnungsgemäß entfernt werden, beschimpfen Rotgänger an Ampeln, drohen mit Anzeigen, wenn man den Müll nicht nach Vorschrift trennt und notieren akribisch kleinere Parkverstöße, um einem dann die säuberlich abgeschriebene Liste unter der Wohnungstür durchzuschieben. Da werden mit Zollstöcken oder Maßband die Abstände zwischen einem Tisch vor dem Haus und der Bordsteinkante nachgemessen oder wie weit das Heck eines Wagens über das Parkverbotsschild hinausragt. Mein Nachbar mit Migrationshintergrund, Mahmud, der schon des Öfteren in diesem Blog aufgetaucht ist, findet es in Deutschland noch „relaltiv harmlosig, der Türkenpack in Türkei ist schlimmerer“ (sic!). Aber gerade ihn, der oft deutscher als deutsch ist, traf die Paranoia einer dieser Blockwartseelen mit voller Wucht, als er es einmal wagte, für seine zahlreichen Cousins und Cousinen ein aufblasbares Planschbecken in unserm Hof aufzustellen. Laut Hausordnung ist das nämlich verboten und da der Streit lautstark und mit zunehmender Dauer auch mit recht unschönen Worten geführt wurde, endete die Angelegenheit vor einem Schiedsgericht.

Ich selbst erlebte diesen Wahnsinn, als ich einige Zeit in der schönen Stadt Augsburg lebte, die immerhin einen der bedeutendsten Dramatiker deutscher Zunge hervorgebracht hat. Am Tag meines Einzugs in das Mietshaus klingelte der Pensionär aus dem Erdgeschoß um 22.25 Uhr an meiner Wohnungstür im vierten Stock. Der Mann war gehbehindert und hatte sich unter Aufbietung aller Kräfte zu mir nach oben geschleppt.

ER (sich schnaufend auf seinen Gehstock stützend): „Sie müssen Ihre Rollos runterlassen.“

ICH (freundlich): „Ihnen auch einen guten Abend.“

ER (harsch): „Ihre Rollos.“

ICH (sehr freundlich): „Was ist damit?“

ER (trotzig): „Die müssen Sie runterlassen.“

ICH (unwissend): „Warum?“

ER (belehrend): „Ab 22.00 Uhr ist Nachruhe.“

ICH (konsterniert): „Aber ich will noch gar nicht schlafen.“

ER (streng): „Aber die Nachtruhe.“

ICH (schwer von Begriff): „Was hat das mit meinen Rollos zu tun?“

ER (offiziell): „Laut Hausordnung müssen mit Beginn der Nachtruhe die Rollos vor den Fenster geschlossen werden.“

ICH (höflich): „Wollen Sie nicht kurz reinkommen?“

ER (bestimmt): „Ich will, dass Sie sofort Ihre Rollos herunterlassen.“

ICH (überfreundlich): „Hören Sie, ich verstehe den Sinn dahinter nicht. Ob ich nun die Rollos jetzt schließe, oder später macht doch keinen Unterschied.“

ER (fassungslos): „Das Geräusch stört die Nachruhe.“

ICH (endlich verstehend und demzufolge zum Einlenken bereit und belustigt): „Ach so, okay, wissen Sie was? Ich verspreche Ihnen hiermit, dass ich die Rollos einfach nicht schließen werde. Einverstanden?“

ER (mit sich ausbreitenden Flecken hochgradiger Erregung im Gesicht): „Wie sieht das denn von außen aus? Wir sind ein ordentliches Haus.“

ICH (sprachlos): ………..

Zwei Tage später erreichte mich ein Schreiben der Hausverwaltung, in dem mir mitgeteilt wurde, dass die Hausordnung Bestandteil des Mietvertrages sei und, falls ich nicht Absicht hätte, mich daran zu halten, „dies zu einer fristlosen Kündigung von Seiten des Vermieters berechtigt.“

 

(wird fortgesetzt)

DAS LEBEN ALS MENSCH: Neulich …. die nervigsten Menschen der Welt (1).

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mir begegnen immer wieder Leute, die fürchterlich auf den Nerven anderer herumtrampeln. Sie tun das meistens nicht mit Absicht, man möchte fast ausrufen: „Die sind eben so.“ Dann fällt mir der Spruch meiner Großmutter ein, die immer behauptet hat, dass man ab einem bestimmten Alter für sein Gesicht selbst verantwortlich ist. Man hat einfach nicht mehr das Recht seine vermurkste Kindheit und Jugend, seine Eltern, das Wetter, den Kommunismus, den ungeliebten Beruf, die letzte Paarbeziehung, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN oder sonstige Katastrophen für die eigenen Widerwärtigkeiten verantwortlich zu machen.

 

Die Liste beginnt mit den stets gnadenlos gut gelaunten Moderatoren von Morgensendungen im Radio. Unfassbar, dass die Angehörigen dieser Rasse sich nicht entblöden einen dümmlichen Kalauer nach dem anderen zu reißen und sich gegenseitig mit Anzüglichkeiten vollzusabbern, als wäre der Hörer ein zahlender Voyeurist, dem man etwas für sein Geld bieten müsste. Sie denken sich für ihr jämmerliches Dasein bescheuerte Namen aus, wie z.B. „Arno und die Morgencrew“ bei RTL in Berlin. In dieser Mischung aus Bildungsferne und Bauernfängerei, bei der ein gewisser „Cäpt’n Montana“ die Verkehrsnachrichten in die Welt brüllt, wie ein Ochse, der bei lebendigem Leib am Spieß gebraten wird, finden sich dann Selbstbeschreibungen wie: „Katja – unsere feierfreudige Ex-Sauerländerin, Ex-Germanistin & Ex-pertin für alle Lebenslagen, kann vieles ein bisschen und nix richtig….“ Treffer – versenkt.

 

Und, da wir gerade beim Radio sind. Mindestens ebenso schlimm sind die Leute, die uns Tag für Tag die Ohren mit nichtssagenden Antworten auf nichtssagende Fragen vollblubbern. Da werden Straßenumfragen zum Skiunfall von Michael Schumacher veranstaltet und angebliche Neuchirurgen entlassen in schlechtem Deutsch widerliche Allgemeinplätze in die Welt: „Da werden jetzt die Narkose mittel langsam mal runtergefahren.“ Sorry, gehts noch? Über die Eröffnung des nächsten Konsumtempels in Berlin – den wirklich keiner mehr braucht – äußert sich ein Berliner Busfahrer mit „Herz und Schnauze“ mit den Worten: „Fahr ick jeden Tach dran vorbei.“ Na und? Muss ich damit belästigt werden? Ein holländischer Tourist, von einer Reporterin nach dem Frühlingswetter befragt, antwortet: „Die Sonne haben wir ja auch in Amsterdam.“ Ach was? Hätte ich gar nicht vermutet, dass die da die selbe  Sonne haben. Abschalten und alle verantwortlichen, jung-dynamisch-hippen Redakteure, deren Hobby es zu sein scheint, ihrer Misanthropie mit solchem Schwachsinn zur Gestaltwerdung zu verhelfen,  dazu verurteilen, sich ihr eigenes Programm als Dauerschleife anhören zu müssen – und zwar während ihres Jahresurlaubs. Das Klappern des losen Schutzblechs an meinem Fahrrad ist um Längen unterhaltsamer.

 

Ähnliche Sumpfblüten an Unausstehlichkeit bringen bayrische Polizisten hervor. In München („Weltstadt mit Herz“, „In Bayern daheim, in der Welt zu Hause“) wurde ich im Jahre es Herrn 2011 innerhalb von drei Monaten vier Mal von derselben Streifenwagenbesatzung angehalten. Mein Einverständnis zu einem Alkoholtest holte man stets in diesem gemütlich-lustigen Dialekt ein („Sanns mit a Alkholkontrolln eiverstandn“). Ich konnte beim ersten Mal nur an dem hingehaltenen Röhrchen erkennen, was man von mir wollte. Beim zweiten Mal wurde ich bereits mit dem drolligen Ausruf „Ah mei, Sie scho widder“ begrüßt. Alle Kontrollen gingen übrigens immer nach 23.00 Uhr in der Deisenhofenerstraße in Giesing über die Bühne, wenn ich, nur noch nach einem Bett verlangend, nach 14 Stunden Arbeitswahnsinn auf dem Heimweg war. Warndreieck und Warnweste mussten vorgewiesen werden, die Funktion der Blinker und des Bremslichtes wurden überprüft und tatsächlich wurde jedes Mal festgestellt, dass das Ablaufdatum des Verbandskastens noch längst nicht erreicht ist, da August 2014 noch in weiter Zukunft liegen müsse. Beim dritten Mal nannte ich den Beamten das Ablaufdatum des Verbandskastens von selbst, woraufhin mich strafende Blicke trafen: „Jo, dös kann ja a jeder soagn.“ Ja, ja, die Berliner, die Saupreißn, die japanischen, denken, sie könnten einfach so hier in unserem schönen Bayern bei Nacht umanander fahren, wie es ihnen gerade passt. Als ich allerdings bei der vierten Kontrolle den Vorschlag machte, ob ich nicht eine Zehnerkarte wie im Schwimmbad oder auf der Eislaufbahn erwerben könnte, wurde es ernst. Das, so erklärte ich, würde mir die halbstündige Befragung, woher ich käme und wohin ich wolle ersparen und das restliche Procedere erheblich verkürzen, da das Ablaufdatum des Verbandskastens sich innerhalb der letzten zwei Wochen nicht geändert haben konnte. Jetzt wurde man dann aber mal ungemütlich: „Net frech wern hier!“ Man zeigte mir die Instrumente wie weiland im Mittelalter, indem man mir mit einer Anzeige wegen Beamtenbeleidigung drohte.

 

Apropos ‚Frechwerden‘ – auch eine Kategorie von Leuten, deren Hobby es zu sein scheint, die Länge des Geduldsfadens ihrer Mitmenschen nachmessen zu wollen, sind diejenigen, die an Engpässen des öffentlichen Raums unvermittelt stehenbleiben. Man sieht sich um oder beginnt hemmungslos etwas in den Taschen zu suchen oder beginnt zu telefonieren. Vorzugsweise passiert das am Ende von stark frequentierten Rolltreppen oder am Ausgang eines Flughafens. Da wird dann zusätzlich noch hemmungslos geknutscht, geherzt oder sich männlich-lässig umarmt. Versucht man die Blockierer freundlich, dabei aber nachdrücklich aufzufordern, sich doch bitte wieder in Bewegung zu setzen, bekommt man auch schon mal die Offerte von physischer Gewalt. Oder eine Verbalinjurie: „Halts Maul, du Sackgesicht.“ Unbedingt gehören in diese Reihe aber auch mindestens 80% aller Radfahrer. Speziell in Berlin, Köln und München kommt man schnell zu der Vermutung, dass das Fahrrad – ein unbedingt fortschrittliches, nachhaltiges und in jeder Hinsicht gesundes Fortbewegungsmittel – eigentlich als eine Waffe zur Unterjochung von Fußgängern, Autofahrern und anderen Radfahrern erfunden wurde. Das grüne Gewissen scheint der Mehrzahl der Radfahrern eine bestimmte Legitimation zu geben, sich allen gegenüber, die sich nicht so fortbewegen oder eben doch wie sie selbst, als Arschloch zu outen. (siehe auch: DAS LEBEN ALS MENSCH. Neulich …. beim Gassigehen.) In der 30er Zone meiner Wohngegend fing sich das Dach meines Autos eine kleidsame Delle ein, weil ich 30 km/h fuhr, der Radfahrer hinter mir sich von meinem Tempo belästigt fühlte und mit der Faust gegen das Blech hieb: „Geht’s noch langsamer, Umweltsau.“

 

Es ist zwar ein Klischee, aber trotzdem ist es wahr und man begegnet ihm immer noch. Eigentlich könnte man glauben, so langsam sollte es mal genug sein mit den ‚Latte Macchiato Müttern‘. In den sogenannten ‚angesagten Bezirken‘ der Reichshauptstadt scheint es jedoch eine Art Aufzuchtanstalten dafür zu geben. Sehr beliebt ist der Kollwitzplatz im Berliner Stadtbezirk ‚Prenzlauer Berg‘ bzw. die umliegenden Cafés. Jeder Alleinegast, vorzugsweise männlichen Geschlechts, der die Dreistigkeit besitzt, aufs Klo gehen zu wollen, muss erstmal Barrikaden von Luxuskinderwagen und Bobbycars überwinden. Legt man darüber hinaus noch die Unverschämtheit an den Tag, eines dieser Gefährte zu berühren, um sich einen Weg zu bahnen, bekommt man schon mal ein Sagrotan-Feuchttuchpäckchen unter die Nase gehalten: „So, jetzt putzte mal schön die Stelle, wo du mit deinen Wichsgriffeln angefasst hast.“ Auf meine Frage, ob ich das nicht machen könnte, nachdem ich mich erleichtert habe, weil ich erstens, wirklich dringend pinkeln muss und zweitens, es sich ja danach erst wirklich lohnen würde, wurde zunächst nur von Wutblitzen aus schmalen Schlitzen hinter der Armani-Brillenfassung beantwortet. Als ich aber dann noch erklärte, dass meine Hände ja schließlich nach dem Toilettengang mit den richtig widerlichen Bakterien meiner Unterwäsche verseucht wären, sah ich mich einer Phalanx aus Jakobinerinnen gegenüber. So muss sich Danton vor dem Revolutionstribunal gefühlt haben. Ehe ich öffentlich quillotiniert werden konnte, gab ich mein Vorhaben auf, zahlte, suchte das Weite und einen anderen Ort für das, was getan werden musste.

 

Ähnlich furchterregend sind die Nervtöter, die vom Mantel völliger Anonymität umhüllt werden. Das mag daran liegen, dass man diesen Zeitgenossen unter keinen Umständen mitteilen kann, wie nervtötend sie sind. Beispielsweise würde ich die Menschen in Behörden gerne kennen lernen, denen es immer wieder einfällt, von drei möglichen, nebeneinander liegenden Eingangstüren, mindestens zwei abzusperren, also für Besucher unpassierbar zu machen. Manchmal sind auch alle Türen zu und ein möglichst kleines, möglichst unleserliches Schild verkündet: „Eingang um die Ecke.“ Wieso? Warum muss man durch einen schmalen Seiteneingang in das Gebäude, wenn der Architekt doch mehrere, großzügige Flügeltüren hat einbauen lassen und diese Türen von Steuergeldern bezahlt wurden? Hat sich irgendwem schon mal der Sinn solcher Maßnahme erschlossen? (wird fortgesetzt)

Das Leben als Mensch: NEULICH ….. bei der Beerdigung des Deutschen Fernsehpreises

Sehr geehrte, zahlenmäßig sehr kleine Trauergemeinde,

sehr geehrte Friedhofsangestellte,

sehr geehrte Totengräber,

sehr geehrte Friedhofszaungäste!

Eine Beerdigung ist sehr selten Anlass zur Freude. Gleichwohl haben wir es heute mit einem solchen Ereignis zu tun, ja, mit einem freudevollen, man möchte fast sagen, erlösendem Ereignis. Der Teure Tote, der heute in der Versenkung verschwindet, war, im Lichte der Scheinwerfer besehen, schon seit seiner Geburt zu einem langen Sterben verurteilt, das ihn jetzt nach nur wenigen Jahren eines verspotteten, bedeutungslosen und kümmerlichen Lebens, von seiner Qual erlöst hat. Über die Gründe mag man spekulieren können. Lag es am Proporzbestreben der Eltern, namentlich der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die für den kleinen Bastard eine unglückliche Zweckehe mit privatwirtschaftlich betriebenen Sendern eingingen? In dieser Hochzeit ohne Segenssprüche und Gratulanten, bei der in den vergangenen Jahren auch schon mal solchen Missgeburten wie „Willkommen bei Mario Barth“ und andere „…tainment“ in der Genrebezeichnung führenden Absurditäten zu den Gästen gehören durften, hing von Anfang an der Haussegen schief. Nun ginge dies das Quotenvieh der Zuschauer ja eigentlich wenig an, wenn da nicht die Gebühr oder der Beitrag wäre, von dem das alles finanziert wurde bzw. die werbetreibende Industrie, die natürlich einen entsprechenden Mehrwert erhalten wollte. Das ganze müffelte allenthalben ein bisschen nach „Hollywood für ganz Arme“, obwohl sich unter den Preisträgern doch auch Perlen der deutschen Fernsehschaffens versammelten. Einer hatte sogar mal den Mut, sich dem Preis zu verweigern, weil er nicht in einer Reihe mit Exkrementen telemedialen – man verzeihe mir den Begriff – Ausscheißens stehen wollte.

Das bestellte, aufgespritzte und Push-up-geschnürte Schwenkfutter – Katzenberger, Pooth, Müller – taten, was von ihnen erwartet wurde – dümmlich in die Kameras lächeln, Kusshändchen verteilen und nicht müde werden zu betonen, wie aufregend und spannend doch so ein Event ist. Aufregung und Spannung hielten sich jedoch in Grenzen. Man bot größtenteils das uninspirierte Kopieren sonstiger Preisverleihungen der Medienbranche in aller Welt und da man nicht Willens (oder eben einfach nur unfähig) war, genügend Feuerwerk abzubrennen, durften es beim Rahmenprogramm eben nur ein paar Wunderkerzen sein. Aber ‚Gott Quote‘ regierte auch hier mit eiserner Hand durch, wie weiland Kanzler Schröder das Land mal durchregieren wollte. Ja, man wollte das Siechtum tatsächlich noch einmal aufhalten und verpasste dem Verstorbenen eine Rosskur, indem man zu schmerzhaften Amputationen schritt. Dass Kameraleute, Cutter, Komponisten, Kostümbildner und Ausstatter zum Erfolg einer Sendung beitragen, wurde kurzerhand ignoriert bzw. fand deren zynische Würdigung unter Ausschluss jener Öffentlichkeit statt, für die man dieses Kaperletheater doch aufführte. Schätzungsweise waren circa 50% der geladenen Gäste überhaupt nicht mit der Herstellung von Filmen und Sendungen beschäftigt, sondern einfach nur schmückendes Beiwerk und Schwenkfutter für die Kameras. Nachhaltigkeitseffekte für die Ausgezeichneten – Fehlanzeige. Oft schlossen sogar Preise, von denen man erwarten sollte, dass sie doch Türen öffnen könnten, die selben sofort, denn Fernsehen ist allgemein nicht der Platz für Herausragendes sondern eher für stabiles Mittelmaß. Dagegen gibt es ganz und gar nichts einzuwenden – ohne Breitensport keine Olympiamedaillen – aber niemand kann erwarten, dass man als Versehrter ein 100-Meter-Lauf-Finale gewinnen kann. Der Zuschauer wendet sich zornig gelangweilt ab, weil er seine Vorurteile bestätigt sieht. Wünschen wir dem Deutschen Fernsehpreis die Friedensruhe, die er verdient hat. Wünschen wir ihm eine gute Grabpflege, die daran gemahnt, die versendete Provinzialität und den ausgestrahlten Zynismus nicht vergessen zu lassen. Wünschen wir ihm aber auch einen würdigen Nachfolger.

DAS LEBEN ALS MENSCH: Neulich ….. Das Sterben der TV-Saurier 2013 (Teil 2)

6.    Siegfried Rauch als Traumschiff – Kapitän (ZDF). Alle Mann von Bord! Der Ausruf bei Seenot focht Siegfried Rauch nicht an. Wie es sich für einen Kapitän gehört,  wollte er bis zum Schluss bleiben. Jetzt überlebt die Serie eine der Hauptfiguren. Rauch stand 14 Jahre mit immer schlechter sitzendem Gebiss und  dabei noch vollem, weißen Haupthaar auf der Brücke und beim obligatorischen Kapitänsdinner seinen Mann – eine nicht anzuzweifelnde Autorität. Neben unzähligen Szenen, in denen er als Stichwortgeber seiner mehr oder minder prominennten Spielpartner fungierte, durfte er auch ab und zu Weisheiten absondern wie: „Fremde Welten muss man kennenlernen, dann sind sie einem nicht mehr fremd.“ Immerhin gelang ihm das so gut, dass man geflissentlich darüber hinweghören konnte. Mit nunmehr 81 Jahren geht der Mann endlich das letzte Mal die Gangway runter, wohlverdient. Die Handbreit Wasser unterm Kiel braucht er nicht mehr. Die Rolle übernehmen wird ein alter Bekannter – Sascha Hehn, der sich vom Chefstewart durch Traumschiffabstinenz und einen intelligenten, wenn auch wenig erfolgreichen Ausflug ins Satirefach zum neuen Kapitän hochgearbeitet hat.

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Das Traumschiff  (Foto: TV-Spielfilm)

5.    Stuckrad-Barre (Tele 5). Der Sender wollte, eigenen Aussagen nach eine „Intelligenzoffensive“ starten und warb BvSB vom ZDF ab. Zumindest hat man es bei Tele 5 geschafft, ein neues Oxymoron zu kreieren – Tele 5 / Intelligenz. Nur die wollte keiner der Zuschauer. Dem Publikum, das dem Sender huldigt, war es offensichtlich zu intelligent und den anderen nicht intelligent genug. Und, mal ehrlich, wer will schon einen kettenrauchenden Narziß, der sich gebärdet, als lägen die Tsunamis der Pubertät noch lange nicht hinter ihm, 45 Minuten ertragen müssen? Seine illustren Gäste – Politiker der zweiten und dritten Reihe – wurden zu komisch anmutend sollenden, dabei aber immer nur albernen Spielchen gezwungen. Bei alldem blieb Stuckrad-Barre immer der Fixstern des halbintellektuellen Universums, alles um ihn herum wurde zur Staffage für seine Selbstdarstellung. Stuckrad-Barre hat das (Tele 5)-Gebäude verlassen. Fortan wird der Mensch beim rbb sein Unwesen treiben.

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Stuckrad-Barre  (Foto: Screenshot ZDF Mediathek von JosFritz)

4.    Glööckler – Glanz und Gloria (VOX). Dazu ist nicht mehr zu sagen, als dass dazu nicht mehr zu sagen ist.

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(Foto: VOX)

3.    Jörg Pilawa (ZDF). Dieses näselnde dummschwätzende und leicht mit jedem Schulhofprinzen zu verwechselnde Frisurmodel hat es geschafft, dass der Herrscher des Lerchenberges in Mainz sauer wurde. Diese Tatsache ist besonders bemerkenswert, weil man eigentlich beim ZDF nicht rausfliegen kann, egal, was man für Blödsinn anstellt – es sei denn, man ist das Bauernopfer einer gescheiterten Sendung. Davon kann aber hier nicht die Rede sein. Pilawa wurde, das muss man sich mal vorstellen, 2002 für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Na gut, das wurden mediale Scheißhaufen wie „Raus aus den Schulden“ (RTL) auch, zählt also nicht besonders. Pilawas Auftreten als nett-burschikoses, aber harmloses Schwiegersohnderivat garantierte besonders in der Zielgruppe ‚weiblich, 40+‘ hohe Einschaltquoten, egal, um welches Quiz es sich handelte. Das Ablesen der Fragen von Kärtchen oder Telepromptern beherrschte er immerhin so gut, dass man ihm nichts anderes mehr zutraute. Daneben beschäftigt sich Pilawa mit dem Verleih und Verkauf von Autos, kaufte sich von den sechsstelligen Gagen eine kanadische Insel, die man von ihm mieten kann und betreibt eine ‚Herrenbudike‘ in Hamburg. Jetzt also wieder der Wechsel zur ARD. Vielleicht haben da die Kärtchen eine andere Farbe oder sollte sich sein Traum von einem eigenen Format mit Anspruch doch noch erfüllen? Bitte nicht!

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(Foto: ZDF)

2.    Mitten im Leben (RTL) – eine der (Groß-)Mütter aller Scripted-Reality-Formate. Das verschwinden dieses Hundehaufens ist eine Befreiung wie die 1945 vom GröFaZ. Fast möchte man auf die Knie fallen und wem-auch-immer danken, dass der faschistoide, populistische, vor Blödheit und Stumpfsinn strotzende Zynismus im Orkus der Fernsehgeschichte runtergespült worden ist. Wären da nicht die noch schlimmeren Klone „Verdachtsfälle“, „Familien im Brennpunkt“ und ähnlicher Sondermüll, der fröhlich weiter den Äther verpesten darf. Auch hier werden ohne Bedenken und von keinerlei Schamgefühl getrübt, Menschen zum moralischen Schafott geführt und der abgeschlagene Kopf der ‚Masse Mensch‘ wie eine Trophäe präsentiert. Dass die ‚Sendung‘ teilweise Einschaltquoten von 30% erreichte, ist für jeden, der ernsthaft und mit Bewußtheit in dem Medium arbeitet, zu tiefst deprimierend. Setz dem Zuschauer Scheiße vor und er wird irgendwann nur noch Scheiße fressen wollen. Diese Machwerke mit radebrechenden, der deutschen Sprache ohnmächtig gegenübstehenden und zumeist bildungsfernen Honks sind wie ein Virus, der seinen Wirt langsam auffrisst. Offensichtlich ist es jetzt soweit. Die Programmpolitik, die die Privatsender mit den billig und anspruchslos runtergekurbelten ‚Pornos ohne Titten und Muschis‘ verfolgt hat, beginnt sich zu rächen. Hochgelobte US-Serien wie „House of Cards“ bei Sat.1 floppen, denn nach jahrelanger medialer Gülledusche empfinden offenbar die Zuschauer Qualität als das Gegenteil. Man hat sich genau den Zuschauer herangezüchtet, den man haben wollte. Jetzt hat man den Salat, wie meine Oma sel. gesagt haben würde. Schließlich lebt man nicht von Cobras allein, sondern man muss sich das leisten können und die Kohle mit anderen Geschichtchen – und seien es eben stinkende Kotzstrahls – einspielen.

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(Foto: RTL)

1.    „Zwei bei Kallwass / Kalwass greift ein“ – Angelika Kalwass und „Britt“ – Britt Hagedorn (Sat.1). Mit dem Schließen dieser beiden Klärgruben des deutschen Fernsehens hat Sat.1 ein wirklich gutes Werk getan. Aber der Sender verdient sich dadurch bestimmt keine Heiligsprechung, denn er hat sie ja auch ausgehoben. Diese Formate waren an Stumpfsinn und Menschenverachtung kaum zu überbieten. Seit  in den 90er Jahren das Crack des ‚Dayly-Talk‘ mit Ilona Christen und Hans Mieser der Unterhosenjournalismus in das Privatfernsehen diffundierte, wurde das ‚Schrei-TeVau‘ immer absurder und zeitweise konnte man das Gefühl haben, irgendwo, an einem streng geheimen Platz in Deustchland gibt es eine, dem ‚Lebensborn‘ der Nazis vergleichbare Einrichtung zur Züchtung der idealen Darstellungsmarionette. Und nebenan werden die Moderatoren dafür geklont.

Betrachtet man sich die Biographien von Angelika Kalwass und Britt Hagedorn erscheint es tatsächlich als Rätsel, wie zwei studierte (ich will nicht sagen: intelligente) Frauen sich als Hanswürste auf dem Zynismusgrill des Privatfernsehns haben gut durchbraten und zum Gespött der noch klar denkenden Restfernsehnation haben machen lassen. Ja, ja, das liebe Geld, natürlich.

Britt Hagedorn zumindest bleibt dem medialen Kot treu und wechselt zu HSE24. Was Angelika Kalwass machen wird, ist unbekannt. Wahrscheinlich hat sie mit dem 12 Jahre andauernden Exkrementieren genug verdient.

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(Foto: Sat.1)

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(Foto:  Sat. 1/ Willi Weber)

DAS LEBEN ALS MENSCH: Neulich ….. Das Sterben der TV-Saurier 2013

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, für mich sind Abschiede eine zwiespältige Angelegenheit, zumal, wenn es sich um Abschiede im, oder besser gesagt, von Programmen im TV handelt. 2013 war ein Jahr vieler solcher Ereignisse – bei manchen handelt es sich tatsächlich um Verluste bei anderen wohl eher um Befreiungen. Vor allem traf es die Dinosaurier.

1.    Die Ziehung der Lottozahlen (ARD), die seit dem 4. September 1965 jeden Samstag live übertragen wurde – die für mich schmerzlichste Amputation. Ich bin mit dieser Sendung aufgewachsen, obwohl meine Kindheit in der DDR stattfand. Die Sendung markierte den Zeitpunkt, an dem ich Samstagabend ins Bett zu gehen hatte. Lange Zeit war die ‚Ziehung der Lottozahlen‘ spannender, freudevoller und amüsanter als das Hauptabendprogramm. Denn meine Großmutter sel. und ich versuchten, während sich die Trommel drehte, die nächste Zahl vorherzusagen. Wer traf oder am nächsten dran war, erhielt einen Strich auf einer von mir mit viel Buntstiftmalereien verzierten Liste. Wer am Ende des Schuljahres die meisten Striche hatte, durfte sich vom anderen etwas wünschen. Auf diese Art und Weise kam ich beispielsweise in den Besitz einer  Modelleisenbahn. Irgendwann kam ich dahinter, dass meine Oma die Liste zu meinen Gunsten manipulierte. Ich bin trotzdem kein Lottospieler geworden. Der Satz: „Der Aufsichtsbeamte hat sich vor der Sendung vom ordnungsgemäßen Zustand des Ziehungsgerätes und der neunundvierzig Kugeln überzeugt“ wird mir jedenfalls im deutschen Fernsehen fehlen.

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2.    Rosa Roth (ZDF) – auch sehr schmerzlich, denn hier feierten intelligente, spannende Unterhaltung und Anspruch an filmische Gestaltung eine immerwährende Hochzeit. Iris Berben war wenigstens ein- bis zweimal im Jahr nicht nervig und auch nicht die exaltierte Betroffenheitsschnepfe mit waidwundem Bambiblick, der ohnehin immer weniger zu ihrem Alter passte, sondern eine großartige, überragende Schauspielerin. Berbens Entscheidung, aufzuhören, weil man gehen soll, wenn es am Schönsten ist und damit der Reihe den Todesstoß zu versetzen, ist nach fast 20 Jahren nachvollziehbar, aber eben doch ein wirklicher Verlust.

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FOTO: STEPHANIE KULBACH/ZDF

3.   Forsthaus Falkenau und Der Landarzt (ZDF) – tut weniger weh als Platz 1 und 2, aber wenn Dinosaurier verschwinden, darf man ruhig ein Tränchen der Wehmut verdrücken. Die Einstellung der Serien erfolgte ohne wirkliche Not. Man fragt sich, ob der oft im Munde der Offiziellen beim ZDF geführte Satz, Altes müsse weg, um Platz für Neues zu schaffen, tatsächlich auch auf diese beiden Serien anzuwenden war. Mag sein, dass sich die beiden „Herren“ nach mehreren Umbesetzungen während der Laufzeit ein wenig zu kuschelig gebärdeten oder es oft zu gefühlig wurde, was Deutschland einig Fernsehvolk da präsentiert wurde. Aber es war für jeden, der es sah, ein Stück gefühlige, kuschlige Heimat mit einem Schuss ZDF-eigenem Eskapismus. Stattdessen überschwemmt der Sender uns mit SOKO-Leichen, deren Zuschauer im Übrigen auch nicht jünger sind als die der abgesetzten Serien. Hätte man nicht vielleicht hier etwas ‚ausdünnen‘ können und nicht aus Proporzgründen jedem Kuhdorf seine eigene Ermittlerbande spendieren sollen? Aber, um nicht ungerecht zu sein, beim selben Sender hat es auch Ein Fall für Zwei und Kommissar Stollberg erwischt – ein vielleicht ungeliebtes Kind, das vom Katzentisch – mehrere Sendeplatzverschiebungen – nun auch nach draußen entlassen wurde. ‚Ein Fall für Zwei‘ soll, laut Berichten des Senders, wieder auferstehen, aber mit dem alten Format nur noch wenig zu tun haben, bis auf die dramturgische Struktur und die Idee (Privatdetektiv hilft Rechtsanwalt). Also was völlig Neues. Sogar der Titel der Nachfolgeserie steht schon fest: ‚Ein Fall für Zwei‘. Gibt es wirklich ein Leben nach Matulla?

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Forsthaus Falknenau    (Foto: WAZ)

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Der Landarzt  (Foto: dpa)

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Ein Fall für Zwei bis 2013  (Foto:ZDF/Andrea Engelrein)

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Ein Fall für Zwei – ab 2014  (Foto: dpa)

4.   Polizeiruf 110 – mit Jaeckie Schwarz und Wolfgang Winkler (ARD). Klar, nach 17 Jahren muss irgendwann mal Schluss sein, denkt man, ehe die privaten Zipperlein der ‚Ost-Volksschauspieler‘ sich nicht mehr von Story, Kamera und Schnitt vertuschen lassen. Zwar haben Serien wie „Der Alte“ und „Derrick“ bewiesen, dass man als Kommissar noch mit weit über 70 jeder Art Verbrecher habhaft werden kann, aber der ‚Polizeiruf‘ war als östlicher Gegenentwurf zum westlichen ‚Tatort‘ dann doch mehr auf Aktion als auf ‚ältere Herren befragen psychologisch angeschlagene Täter‘ ausgerichtet. Zunehmende Kurzatmigkeit und das Eingeständnis Winklers, in der DDR als IM der Stasi zu Willen gewesen zu sein, haben der Popularität jedenfalls nicht geschadet. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach kamen aus Leipzig, wo dieser ‚Polizeiruf‘ produziert wurde, die klügsten, brisantesten Plots, was für mich den Schluss zulässt, dass es doch noch gescheite, kämpfende Redakteure gibt. Nun ist Schluss – irgendwie sehr schade.

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Polizeiruf 110  (Foto: dpa / Jens Wolf)

5.   Die Anrheiner / Ein Fall für die Anrheiner (WDR). Zwar wird die letzte Staffel der Regionalserie nächstes Jahr noch ausgestrahlt, aber die Produktion wurde bereits im August 2013 eingestellt. Meines Erachtens nach ein besonders abschreckendes Beispiel wie man Kontinuität aus geschmäcklerischen Gründen erst kaputtreden, dann kaputtsparen und schließlich komplett zerstören kann. Als Verantwortlicher muss mir ein Format nicht immer unbedingt gefallen, aber ich habe doch bitte ein Gespür dafür, ob etwas funktioniert, also authentisch ist und daher vom Zuschauer angenommen wird oder nicht. Nachdem die  Produktionsfirma Ziegler-Flim Köln auf Geheiß des Senders die Serie von der Familienunterhaltung auf Krimi getrimmt hat, wurde offenbar, dass das mit dem vorhandenen Budget nicht leistbar ist und man sich nur lächerlich machen konnte. Zwar hat man bei Ziegler-Film alles nur Menschenmögliche getan, um den Untergang des angeschlagenen Anrheinerdampfschiffes abzuwenden, aber gerade die Lächerlichkeit, die durch fehlende Mittel entstand, waren dann der Grund, der Serie den Garaus zu machen. Es wirkt wie ein Menetekel, dass die Schauspielerin der ‚Uschi Schmitz‘ – Hildegard Krekel – die Ausstrahlung der letzten Staffel nicht mehr erleben wird. Sie starb kurz vor ihrem 61. Geburtstag.

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Die Anrheiner / Ein Fall für die Anrheiner   (Foto: WDR/Melanie Grande)

(wird fortgesetzt)